JUNI
1.
Bei der Konferenz am Donnerstagmorgen - dem 1. Juni - sagten Petterssen und Douglas vorher, dass das Wetter des kommenden Wochenendes Teil einer langen, wandernden Kaltfront sei, die mindestens eine Woche lang das Wetter bestimmen werde. Krick und die anderen in Widewing waren überzeugt, dass es mit dem schlechten Wetter morgen vorbei sein würde. Dann würden Stagg, Yates und ich schon in Portsmouth sein, wo wir uns mit dem Rest des Stabs treffen sollten, dachte ich.
»Ich persönlich blicke Montag sehr optimistisch entgegen«, sagte Krick. »Sie sehen doch, wie dieser Ausläufer des Azorenhochs den Kanal vom schlechten Wetter abschirmen wird. Er wird wie eine Blase den Eingang versperren. Oder wie ein Finger im Deich.« Er hörte einfach nicht auf, von diesem Finger zu reden.
Am Nachmittag fuhr ich mit Stagg und Yates in einem Wagen der RAF nach Portsmouth: drei schwer besorgte Männer, die still dasaßen. Der Ernst der Lage wurde durch die langen Staus des Kriegsverkehrs noch unterstrichen, die die Fahrt stark verzögerten. Unterwegs fiel mir plötzlich ein, dass ich arrangiert hatte, dass die alten Instrumente von WANTAC nach Bushey Park geliefert wurden und nicht nach Portsmouth. Wenn wir angekommen waren, musste ich gleich als Erstes anrufen. Ich fragte mich, ob sie schon abgeholt worden waren. Ich stellte mir vor, wie der Pilot - vielleicht ja Reynolds selbst - im Tiefflug die Leine mit der Tasche einhakte und dann das Flugzeug wieder hochzog, während die Fracht darunter baumelte, bevor sie von einem Crewmitglied eingeholt wurde.
Während wir in einem Militärstau standen - Panzer, Truppentransporter, Dienstwagen und Lastwagen auf Lastwagen voller Soldaten -, dachte ich daran, dass ich bald sehr nah bei Gill Ryman sein würde. Ich war auf dem Weg nach Portsmouth, sie befand sich auf der Isle of Wight, direkt auf der anderen Seite des Solent. Wieder ließ mich die Tatsache vor Selbstekel zusammenzucken, dass ich ihr noch nicht geschrieben und mich für den Tod ihres Mannes entschuldigt hatte. Es mochte vor dem Hintergrund der Bedeutsamkeit dessen, was ich jetzt tat, unerheblich wirken, aber in meinen Gedanken konnte ich Rymans Tod nicht von der bevorstehenden Invasion trennen. Seine Zahl schien mir allerdings unerreichbarer als je zuvor. An ihre Stelle war die Angst gerückt sowie eine seltsame Mischung aus Verlangen und Bewunderung seiner gestohlenen Braut, als die ich Gill merkwürdigerweise sah.
Ich erschrak, als ein Stechen mir Nasenbluten ankündigte. Nachdem ich erfolglos in den Hosentaschen nach einem Taschentuch gewühlt hatte, musste ich Stagg um eins bitten, der seins herauszog (auf ihn war immer Verlass, wenn man eins brauchte) und es mir gab. Das Blut floss gleichmäßig und färbte den weißen Stoff rot. Ich legte den Kopf in den Nacken und spürte, wie es mir hinten den Hals hinunterrann, bis es schließlich versiegte.
Mir war übel, und ich erschauderte vor Angst, es könnte wieder ein Schwindelanfall im Anmarsch sein: die Kraft von tausend Magneten, die mich zu Boden zogen, sobald ich aus dem Wagen stieg. Den Rest der Fahrt über vermischten sich lange unterdrückte Erinnerungen an die Schlammlawine mit einem Bild von Ryman, der, den Kopf nach vorne gekippt wie ein leidender Jesus am Kreuz, am Draht des Ballons hing und mit angeschwollenem Gesicht und purpurfarben starb, als wäre ihm eine rote Robe umgelegt worden, während sich weiter unten eine grausame Wunde öffnete, wo der Draht in den Hals schnitt.
Gab es eine letzte Chance auf Vergebung? Eine verneinende Antwort schien die Scheibe des Autofensters zu durchdringen, das tanzende Wolken über einem düsteren Feld einfasste. Hauptsächlich Nimbus, die Regenwolke, und Nebulosus, die Wolke des Zweifels.
Ich dachte reumütig über meinen verlorenen Glauben nach. Ich war völlig nach innen gekehrt und lehnte die Liebe ab. Ich hörte nicht auf die erste Regel des heiligen Benedikt, die uns die Mönche in Douai als Schlüssel zu allem gelehrt hatten. Ausculta o fili, inclina aurem cordis tui... Neige das Ohr deines Herzens. So etwas in der Art.
Als wir nach Portsmouth kamen, nieselte es. Ich hatte einen steifen Nacken, weil ich zu lange in den Himmel gestarrt hatte. Als wir auf das Gelände von Southwick Park fuhren, fiel der Regen etwas stärker und ließ die Blätter an den vielen Bäumen in unregelmäßigen Abständen tanzen und springen. Ein großes viktorianisches Landhaus hätte die Szene überragt, wenn sich nicht mehrere Hektar an Zelten unter den Bäumen und bis in die Hügel dahinter erstreckt hätten.
Zwischen den Zelten standen einige khakifarbene Wohnwagen, wovon sich einer etwas abseits in einem kleinen Wäldchen befand.
»Das ist die Unterkunft des Oberbefehlshabers«, sagte unser Fahrer. »Mr Churchill ist vor ein paar Tagen angekommen. Und Smuts.«
Jan Smuts, ein Südafrikaner, war Churchills Stellvertreter im Kriegskabinett. Er war ein interessanter, wenn auch heute weitgehend vergessener Mann, dessen Buch Die holistische Welt sehr lesenswert ist; niemand Geringeres als Einstein selbst hatte es gelobt und gesagt, Smuts' holistische Weltsicht und seine eigene Relativitätstheorie seien die zwei großen Paradigmen menschlichen Denkens im neuen Jahrtausend.
Davon waren wir noch weit entfernt. Als wir an diesem Donnerstag vor dem Haus anhielten, wirbelten über uns düstere Wolkenmassen, die die Sonne verdunkelten. Zweifellos war stürmisches Wetter im Anmarsch. »Jetzt wird es ernst, Leute«, sagte Yates, als wir ausstiegen. »Heute Abend fahren die großen Schiffe ab, komme was wolle.«
Er hatte recht. Der Tag der Abrechnung rückte näher. Die großen Kriegsschiffe der Alliierten, die Montag die Küste der Normandie unter Beschuss nehmen sollten, würden am Abend an ihren Liegeplätzen vor Nordirland und dem Westen Schottlands - also auch einige in Cowal - die Anker lichten und Kurs Richtung Süden nehmen, um sich im Kanal zu treffen. Gleichzeitig zerrten Tausende von Flugzeugen - Hurricanes, Spitfires, Lockheeds, Lancasters und Lysanders - in ihren Flughafen-Zwingern an den Ketten, und Tausende von Männern in ihren abgeschirmten Feldlagern - in Zelten, die über halb Kent, den Großteil von Devon sowie ganz Sussex, Hampshire und Dorset aufgeschlagen waren - warteten auf den Marschbefehl.
Wir gingen zu den Zelten, die bereits für uns aufgeschlagen worden waren. Als ich mir die Holzheringe ansah, mit denen die Spannleinen befestigt waren, bekam ich plötzlich das schreckliche Gefühl, vom Schicksal gefesselt zu sein.
Ich versuchte, es zu ignorieren, warf den Koffer ins Zelt und machte mich auf den Weg zum Haupthaus. Ich fand die RAF-Abteilung und bat darum, dem 518th Squadron (das von Stornoway aus die BISMUTH-Route flog) mitzuteilen, dass das Paket von WANTAC nach Portsmouth geliefert werden sollte und nicht nach Bushey Park. Später kam die Nachricht zurück, dass die Instrumente erfolgreich abgeholt worden waren und sich auf dem Weg befanden. Es blieb die Frage, wie ich sie testen würde. Ich brauchte einen Windkanal und eine Druckkammer. So etwas gab es in Southwick nicht.
Als ich die Umleitung von WANTAC arrangiert hatte, kümmerte ich mich endlich um die andere Mitteilung, die mir auf dem Gewissen lastete. Ich schrieb Gill.
Uns war zum Arbeiten eine Nissenhütte oben am Hang zugeteilt worden, und dort brachte ich mein eigenes Wetter in Ordnung, während ich den Rufen der zahlreichen Möwen zuhörte, die draußen durch die graue Atmosphäre flogen. Ich schrieb einen kurzen Brief, in dem ich Gill mein verspätetes Beileid ausdrückte und mich ganz direkt für das entschuldigte, was ich getan hatte. Es wäre mir sinnlos vorgekommen, um den heißen Brei herumzureden und mildernde Umstände geltend zu machen.
Ich erklärte, dass ich mich in Portsmouth aufhielt, und schlug vor, dass wir uns treffen könnten, sobald meine Arbeit etwas überschaubarer wurde. Die Adresse fehlte mir immer noch. Da ich mich aber daran erinnerte, dass sie mit Mädchennamen Blackford hieß und dass Ryman erzählt hatte, dass ihr Vater in den Saunders-Roe-Werken arbeitete (was, wie ich mich erinnerte, auch aus den Geheimdienstunterlagen über Ryman hervorging, die Sir Peter mir vor all den Monaten gegeben hatte), schrieb ich den Brief an Gill Ryman c/o Mr Blackford adressiert an die Firma. Falls er nicht mehr dort arbeitete, gab es dort bestimmt jemanden, der wusste, wo er wohnte.
Als ich den Umschlag versiegelt hatte, war ich unglaublich erleichtert. Mit dem Brief in der Tasche meiner Uniformjacke rannte ich zum Haupthaus hinunter, um die Abendpost noch zu erwischen. Ich erinnere mich heute noch daran, wie es juckte - zum einen juckte der blaue Serge-Stoff, zum anderen die Sehnsucht nach Vergebung, danach, dass meine Sünden einer anderen Zone zugeteilt wurden. Doch leider neigen sie dazu zurückzukehren, als würden sie sich ihren Weg nach Hause durch die Tore und Gassen der Atmosphäre suchen.